Gespräch mit AGNÈS VARDA

  • 21. März 2010
Gespräch mit AGNÈS VARDA
Foto: Angelika Huber, LaDOC
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LaDOC Gala Lecture im Kino Odeon in Köln am 17.01.2010

AGNÈS VARDA im Gespräch mit Caroline Nokel und Saskia Walker

nach der Aufführung von VOGELFREI (SANS TOIT NI LOI)

Gala Lecture VIMEO CHANNEL

Video von Britta Wandaogo für LaDOC

Hier ist nicht genug Licht, dabei ist es ein unglaubliches Vergnügen für eine Filmemacherin, einen so vollen Saal zu sehen. Wenn ich diesen Film fast 25 Jahre später sehe, denke ich an die Leute, die man „SDF“ (sans domicile fixe, dt: ohne festen Wohnsitz) nennt. Damals wurde dieser Begriff nur von der Polizei verwendet, aber von ihnen wurde nicht viel geredet. Jetzt gibt es ein größeres Bewusstsein für diese Leute und was es bedeutet draußen zu leben. Man macht vielleicht nicht mehr für sie, aber man spricht in Frankreich sehr viel über sie. Ich glaube, dass man als Filmemacherin diese Themen fühlen muss, die ins kollektive Bewusstsein gelangen werden. Als ich SANS TOIT NI LOI vorbereitet habe, wusste ich natürlich, was Clochards sind. Ich habe auch gesehen, dass sie immer jünger wurden. Seit einigen Jahren hatte ich da junge Mädchen gesehen. Das waren nicht die alten, betrunkenen Frauen, die mit den Clochards mitgegangen sind, sondern junge Mädchen, die aufbegehrt haben. Darüber habe ich mich erkundigt, bevor ich mit dem Film angefangen habe. Aber es ist kein Dokumentarfilm, es ist ein Spielfilm.

Caroline Nokel
Wie ist die Figur der Mona entstanden?

Agnès Varda
Frauen und Mädchen haben manche Probleme und das Wort Freiheit dient allem Möglichen. Eine Nation, die sich emanzipiert, möchte die Freiheit. Ein Mann im Gefängnis will seine Freiheit. Und ein Mädchen oder Junge von 15 Jahren sagen ihren Eltern: „Ich will frei sein.“ Das Wort bedeutet viele Dinge. Der Titel auf Deutsch ist übrigens sehr schön. VOGELFREI hat ja auf Deutsch eine mittelalterliche Konnotation. Auf Französisch heißt der Film SANS TOIT NI LOI, ohne Dach und Gesetz, das bedeutet etwas anderes.

Saskia Walker
Hat das im Französischen nicht diese mittelalterliche Assoziation?

AV
Nein, gar nicht. Das heißt nur: Man hat kein Dach und man möchte kein Gesetz.

Der Titel ist rebellischer, auf Deutsch ist er eher historisch. Das Thema Freiheit hat mich sehr interessiert, ich wollte mehr erfahren. Ich habe Tramperinnen im Auto mitgenommen und sie dann befragt. Oder nachts war ich in den Bahnhöfen, die geöffnet blieben, wenn es kalt war. Nach den letzten Zügen waren nur noch die Clochards übrig, die schliefen. Manchmal habe ich bis 2 Uhr morgens gewartet, bis jemand fragte: „Hast du eine Zigarette?“ Dann haben sie angefangen zu erzählen und so habe ich viele Geschichten gesammelt. Es gab sogar ein Mädchen, das die ganze Zeit bei den Dreharbeiten dabei war und uns auf einige Ideen gebracht hat. Sie war noch viel wilder als Mona, die Hauptfigur des Films. Ich hatte das Glück, Sandrine Bonnaire zu fragen, diese Rolle zu spielen. Sie hatte in einem schönen Film von Maurice Pialat angefangen, À NOS AMOURS. Da war sie 15 ½. Zwei Jahre später habe ich sie angefragt, natürlich über ihren Vater, da sie ja minderjährig war. „Und wird das so sein“, fragte mich der Vater, „wie im ersten Film, wird sie da wieder nackt sein?“. „Nein, nein,“ sagte ich, „es ist genau das Gegenteil, es wird ja die ganze Zeit kalt sein, sie wird sich die ganze Zeit anziehen wollen.“

Man kann sagen, dass es der Beginn ihres Todes ist, als sie ihre Decke verliert. Was mich interessiert hat, war, was die Freiheit für die Mädchen auf der Strasse bedeutet. Nicht zu arbeiten, oder ein Minimum, um einen Sandwich bezahlen zu können, egal wohin zu gehen und egal wo zu schlafen und andere Vagabunden auf der Strasse kennenzulernen. Auf Französisch nennt man die Anhalter auf der Straße „routards“ — es sind diejenigen, die die Straße machen. Man weiß nie genau, was sie eigentlich wollen. Wenn sie in Barcelona sind, wollen sie nach Lyon und wenn sie in Lyon sind, wollen sie nach Amsterdam. Sie irren durch die Gegend. Sie denken in Amsterdam gibt’s leicht Marihuana zu kaufen. Und dann gibt’s aber einen Freund, der ihnen eine Jacke in Lyon geben kann und so durchqueren sie Frankreich. Das ist wirklich „vogelfrei“, sie haben keinen festen Halt. Die Figur Mona war für mich so rätselhaft, dass ich eine Struktur erfunden habe, durch die sie von anderen beschrieben wird. All das sind erfundene Zeugen, denn es ist kein Dokumentarfilm. Ich habe das alles geschrieben. Aber es ist wie in einem Dokumentarfilm, in dem man die Leute fragt, was passiert ist. Ich wollte, dass jeder nur einen Ausschnitt sieht und dass diese ganzen Elemente ein Portrait von Mona ergeben. Sie selbst erklärt ja nichts.

Ich war nicht an der Sozialpsychologie interessiert, wieso sie überhaupt auf der Strasse ist. Wurde sie von ihrem Vater rausgeworfen? Hatte sie einen Geliebten und hat ihn verlassen? Kommt sie aus dem Gefängnis? Kommt sie aus einem Heim? Das war mir aber egal. Ich wollte nur wissen, wie verhält sie sich in dem Moment, in dem sie alleine auf der Strasse lebt. Wie macht sie ihr Bett, wie isst sie, wie redet sie mit den Leuten, wie kriegt sie zu essen, wie findet sie ein Auto, das sie mitnimmt? Und da sie eben nicht kommuniziert, wird ihre Einsamkeit mit der Zeit so groß, dass sie an ihr sterben wird.

Es gäbe einige Auswege aus dieser Geschichte, zum Beispiel durch die Frau, die sich um die Platanen kümmert. Das sind diese Bäume, die vom Aussterben bedroht waren, wie die Ulmen, die in Frankreich ausgestorben sind. Man muss viel Geld ausgeben, damit die wissenschaftliche Forschung diese Bäume rettet. Und das ist interessant bei einem Film bei dem es um einen Menschen geht — hat man genauso viel Geld, um auch die Menschen zu retten? Ich wollte, dass sie diese Spezialistin kennenlernt. Sie verkörpert das, was wir alle empfinden, wenn wir den Film sehen. Man will helfen. Aber inwieweit kann man so jemandem helfen? Sie kann sie nicht adoptieren, nicht nach Hause mitnehmen. Sie hilft ihr ein bisschen und schmeißt sie dann raus. So ist sie immer, die Beziehung zu den ganz Armen.

Der andere, der ihr helfen will, ist dieser verrückte Philosoph, der Ziegenkäse herstellt. Er ist Teil dieser 68er Bewegung, der gesagt hat: „Uns reicht’s, wir steigen aus.“ Diese Art von Revolte steht im Gegensatz zu ihrer Revolte. Die passen überhaupt nicht zusammen. Jeder, der außerhalb der Gesellschaft ist, will nicht alleine sein. Und dann schafft sie es auch noch, sich mit denen zu verkrachen. Sie lehnt absolut jeden ab und deswegen ist sie wirklich in Gefahr.

CN
Wie viel war von dir geschrieben und wie viel Platz war zum Improvisieren?

AV
Der Film hat eine dokumentarische Textur, aber es ist kein Dokumentarfilm. Alle Dialoge von Sandrine sind geschrieben und alle Leute, die sie trifft, sind vorbereitet. Ich habe wirkliche Leute getroffen, „echte Leute“, wie ich immer sage. Die Marokkaner, die die Weinstöcke schneiden und dieser eine Tunesier. Man hatte ihm den Text gegeben, aber er war ganz eingeschüchtert von mir. Da habe ich Sandrine gesagt: „Du hast zwei Tage, kümmere dich mal drum, dass es irgendwie klappt mit dem Text“. Von einer Achtzehnjährigen war er natürlich nicht eingeschüchtert, außerdem war sie auch sehr nett. Es waren alles „echte Leute“, bis auf die Platanologin, Macha Méril, die mit Godard EINE VERHEIRATETE FRAU und vieles andere gedreht hat und Stéphane Freiss, ihr Assistent, der damals angefangen hat. Alle anderen sind „echte Menschen“, keine Schauspieler. (Gelächter im Publikum) Aber ja, ich nenne sie „echte Leute“.

CN
Mir ist aufgefallen, dass die Figur der Yolande, die von Yolande Moreau gespielt wird, und auch andere ihre richtigen Namen tragen.

AV
Yolande habe ich kennengelernt, als sie Straßentheater machte. 1984 drehte ich einen sehr improvisierten Dokumentarfilm über Avignon, 7 ZIMMER, KÜCHE (7P., CUIS., S. DE B., … À SAISIR), da hat Yolande das Zimmermädchen gespielt. Ich fragte sie, ob sie so eine Rolle noch mal spielen wollte.

CN
Du hast also zuerst diese Darsteller gefunden und die Figuren dann nach ihnen benannt?

AV
Man schreibt und denkt an Leute. Die Dialoge schreibe ich oft erst am Ende. Wenn ich merke, dass sich etwas verändert, dann schreibe ich es um.
Eine Hälfte der Dialoge blieb so, die andere wurde kurz vorher umgeschrieben. Meistens stand ich morgens ganz früh auf, zwischen 04:30 und 06:00 und machte die Dialoge für den ganzen Tag fertig. Dann haben wir sie schnell fotokopiert, denn sie waren mit der Hand geschrieben und sind gegen 06:00 mit dem Auto losgefahren, um gegen 07:30 mit den Dreharbeiten anzufangen. Abends war ich müde und bin mit den Hühnern ins Bett. Und um vier wieder wach: weiter geht’s! So war das für SANS TOIT NI LOI. Jeder Film hat seine eigene Organisation, seine eigenen kreativen Weg. Für Sandrine war das eine große Rolle. Wir machen keine psychologischen Analysen vor dem Film, aber ich wollte, dass sie eine gewisse Art von Verhalten lernt. Sie war mit einem anderen Mädchen zwei Tage im Wald campen und musste da selbst Feuer machen. Nicht wie ein Camper mit Ausrüstung, sondern wie die Vagabunden, mit nichts außer einem kleinen Messerchen. Ich erzähle Ihnen ein technisches Detail, denn Filmemachen ist ja ein Handwerk. Da man einen Film nicht immer chronologisch dreht, hatten wir drei Paar Stiefel für Mona. Das eine Paar war schon ziemlich hässlich, das Zweite abgenutzt und das dritte Paar fiel auseinander, wie ein mittelalterlicher Schuh. Man braucht diese Details, um zu merken wie die Zeit vergeht, denn die Geschichte spielt zwei oder drei Monate vor ihrem Tod. Das sieht man nicht so genau, aber das fühlt man durch Details. Am Anfang kommt sie ganz sauber aus dem Meer und wird dann immer schmutziger. Ihre Fingernägel haben wir jeden Morgen schwarz geschminkt, auch ihre Haare haben wir fettig gemacht. Es ist ein Drama, als sie den Schlafsack, der ihre Schutzhaut ist, durch das Feuer verliert. Wir erzählen ihre Einsamkeit und den Mangel an Austausch. Dazu gehört auch die Gewalt, die ihr in diesem merkwürdigen Dorf widerfährt. Dieses Dorf an der Rhône in der Nähe von Montpellier gibt es wirklich. Wenn der Wein ausschlägt, gibt es schon seit dem Mittelalter dieses Fest. Die Weißen werden von Verkleideten angegriffen um sie schmutzig zu machen. Man versucht sie in diesen Bottich mit Weinresten und Urin zu werfen. Das ganze Dorf verschanzt sicher hinter Plastikfolie. Diesen Brauch haben wir genutzt, um das Maximum an Schmutz und Gewalt zu zeigen, das der armen Mona zustößt.

CN
Ihr habt in der Provence gedreht. Welche Rolle spielte die Landschaft?

AV
Eine große Rolle. Die Gegend nennt man „Gard“, sie ist nicht wie die Côte d’Azur oder Marseille. Der Gard sieht nicht so charmant aus wie die Provence. Die Gegend hat ein wechselhaftes Klima, ist sehr protestantisch und hat eine spezielle, verschlossene Architektur mit wenig Fenstern. Ich wollte unbedingt dort drehen, denn man ist gewohnt zu sagen, dass man vor Kälte in Russland und Finnland stirbt, aber nicht in Frankreich. Damals war es nicht so richtig kalt, minus 1-2 Grad. Aber weil wir wenig Geld hatten, waren die Dreharbeiten eine wirkliche Herausforderung. Wir waren 12 Stunden draußen und hatten keine Wohnwagen, um uns zurückzuziehen. Wir sind von einem Ort zum anderen gezogen. Aber wir hatten das Gefühl mitten im Thema zu sein. Wir waren nicht die schön Warmen und die anderen die Frierenden, wir waren mit denen zusammen. Am Ende des Films war es schrecklich kalt. Wenn sie da mit den Zähnen klappert, zerreißt es mir das Herz.

SW
Hatten Sie das Ende als Anfang geschrieben oder ist das im Schnitt entstanden?

AV
Natürlich war das so geschrieben, dass es mit dem Tod anfängt. Ich wollte auf keinen Fall, dass man sich fragt, ob sie gerettet wird und von wem. Das Thema ist eigentlich wie bei CITIZEN KANE. (Lachen im Publikum) Why not? Er ist am Anfang bereits tot und es gibt eine Frage: „Was ist passiert?“ Es sind die zwei bis drei Monate, die dann zu diesem Tod führen. Aber es gibt kein „Rosebud“. Das ist ein Stilmittel, das Welles und viele Cineasten schon benutzt haben. Ich habe Orson Welles nur genannt, damit Sie lachen.

Publikumsfrage
Ich meinte am Anfang des Filmes kurz Ihre Stimme als Erzählerstimme zu hören.

AV
Da haben Sie aber gut zugehört. Ich sage: „Man weiß nicht so viel von ihr.“ Das ist nur der erste Satz. Wenn ich einen Kurzfilm mit Kommentartext mache, dann schreibe ich ihn und spreche ihn auch. Früher hat man das von einem Schauspieler sprechen lassen. Aber ich spreche in dem Film so wie jetzt zu Ihnen. Ich habe mir angewöhnt, immer ein Stück von mir in den Filmen zu lassen.

Publikumsfrage
Ich hatte den Eindruck, dass die Zeugen mit Ihnen als Autorin sprechen. Man dachte, dass Sie hinter der Kamera stehen, so wirkte er noch mehr wie ein Dokumentarfilm.

AV
Ja, bei den Zeugen wollte ich den Eindruck eines Dokumentarfilms vermitteln, die Leute sprechen in die Kamera. Man kann sich vorstellen, dass ich die Kamera bin, aber auch Sie als Zuschauer. Viele der Zeugen haben nichts verstanden, Mona ist ja auch schwer zu verstehen. Deshalb wollte auch ich kein allwissender Erzähler sein. Ich sagte mir: „Ich weiß nicht alles über sie.“ Ich habe die Geschichte zwar geschrieben, aber ich verstehe sie vielleicht nicht. Es war eine Herausforderung eine Person zu beschreiben, die ganz schwer zu fassen ist. Diese Menschen sind so widersprüchlich und überraschend. Ich hatte mal ein Mädchen mitgenommen, das getrampt ist. Sie hatte einen Rucksack dabei. „Zeigst du mir, was Du in deinem Rucksack hast?“, fragte ich sie. Sie hatte einen Pullover, ein einfaches Küchenmesser und ein Buch dabei. Ein französisches Wörterbuch. „Warum hast Du das dabei?“, fragte ich sie. „Ich habe das im Müll liegen sehen und mitgenommen manchmal lese ich darin.“ Niemals hätte ich mir als Drehbuchautorin am Schreibtisch so etwas ausdenken können – ein Mädchen, das auf der Strasse lebt, mit einen Wörterbuch.

Publikumsfrage
Ich würde gerne wissen, wie der Film 1984 aufgenommen wurde. In den 1970er Jahren gab es, in Folge der 68er Revolten, viele Versuche, sich von der Gesellschaft
abzugrenzen oder sie vollkommen zu verlassen. In dieser Hinsicht ist der Film schon sehr ernüchternd.

AV
Ich hatte natürlich Angst, denn ich wusste, dass der Film sehr radikal ist. Als er ins Kino kam, haben wir als Werbung Handzettel vorbereitet, die wir unter Scheibenwischer geklemmt haben. „Sie stinkt, sie sagt nicht danke, würden Sie sie im Auto mitnehmen?“ Wir hatten auch Plakate, auf denen ein Mädchen am Anfang sehr schick aussieht, dann ein bisschen weniger und am Ende auf der Bank schläft, um zu zeigen, dass das jedem passieren kann. Aber ich hatte ganz schön Angst. Wir waren auf dem Festival von Venedig und gewannen überraschend den Goldenen Löwen. Nicht schlecht. Merkwürdigerweise ist dieser Film auch mein größter kommerzieller Erfolg. Der Film ist im Dezember angelaufen als es eiskalt war, ich glaube das war ziemlich gut. denn die Leute haben begriffen, dass jetzt die Leute an Kälte sterben können. Zu meiner großen Freude wurde der Film in die ganze Welt verkauft und hatte 1 Millionen Eintritte in Frankreich, ein richtiger Erfolg. Aber ich habe noch andere genauso ehrlich gemeinte Filme gemacht, die gar nicht liefen.

CN
Aber in Frankreich ist es anders.

AV
Das ist relativ. Auch in Frankreich bin ich ziemlich im Abseits. Ich kann ohne anzugeben sagen, dass die Leute, die aus meinen Film rauskommen, zufrieden sind. Aber man kriegt sie nicht rein ins Kino…

CN
Wenn Du sagst, dass niemand Deine Film sieht, würde mich interessieren, wie Du es geschafft hast, in Deiner Nische zu überleben.

AV
Weil ich eine ziemlich kräftige kleine Frau bin. Wenn ich in meinem Alter immer noch Stand halte, dann nur, weil ich glaube, dass das Kino ein großartiges Mittel ist, um zu teilen. Wenn es zwar nicht Millionen, aber doch Hunderte von Leuten in den Städten gibt, die das verstehen und die Augen aufmachen – dann ist es nicht die Quantität, die den Erfolg ausmacht, sondern die Qualität der Wahrnehmung. Aber ich muss sagen, ich bin erstaunt. Ich gehe nach Polen oder Südkorea und der Saal ist so voll wie hier – und nicht nur, weil ich da bin und sie das Tier sehen wollen.

SW
Sie haben eine eigene Produktionsfirma namens Ciné Tamaris.

AV
Deswegen sind wir frei. Wenn ich zum Beispiel bei einem Produzenten die Geschichte vorstellen würde: „Ein dreckiges Mädchen stirbt in einem Graben.“ Er würde kein Geld finden. Daher haben wir selbst produziert. Natürlich gibt mir nicht die Bank das Geld. Es ist immer das Fernsehen, das die Filme produziert. Dann gibt es in Frankreich das CNC, das Centre National Cinématographique und die Förderungen der Länder. Und dennoch fehlt plötzlich Geld. Dann nehmen wir das Risiko auf uns und sagen: „Wir bezahlen Agnès später“… wir zahlen nur das Notwendigste, damit wir drehen können. Mir macht es total Spaß, dieses Risiko einzugehen. Ich glaube, das Kino ist ein Ort, wo man sich ohne Einschränkungen engagiert. Außerdem hatte ich für SANS TOIT NI LOI das Glück, eine hervorragende Darstellerin zu haben, die vorher schon den César gewonnen hatte. Ich habe dann den César für LES PLAGES D’AGNÈS bekommen, ohne Star. Die Produktionsfirma haben wir 1954 gegründet, aber erst 1975 ist es richtig losgegangen. LES CRÉATURES war ein Flop, danach wollte keiner mehr meine Filme produzieren. Ciné Tamaris, das ist meine Familie: meine Tochter und mein Sohn, eine Freundin und ich. Wir machen nur meine Filme und vertreiben die Filme von Jacques Demy, der die Liebe meines Lebens war und ein unglaublicher Filmemacher. Wir haben die Mission, seine Filme zu restaurieren, sie zu verleihen und bekannt zu machen. Wir produzieren, verkaufen, verleihen die Filme und machen auch die DVDs selbst. Wir versuchen ein ganz normales Verhältnis zwischen den Leuten, die sie machen und den Leuten, die sie kaufen, herzustellen. Auf der anderen Seite meiner Straße, der Rue Daguerre, gab es früher einen Haushaltswarenladen, der kommt auch in meinem Film DAGUERROTYPES vor, dort schneiden wir jetzt. Der Laden hat eine Vitrine zur Strasse in der unsere DVDs ausliegen. Leute kommen rein und kaufen Filme. Ich sitze da mit meiner Cutterin und schneide und jemand fragt: „Kann ich JACQUOT DE NANTES kaufen?“ und ich verkaufe ihnen die DVD. Wenn sie mich erkennen, fragen sie: „Oh, Sie sind das selbst? Können Sie die DVD signieren?“ Ich bin mir sicher, dass der Mensch, der die DVD da gekauft hat, wo sie hergestellt wurde, genau dasselbe Gefühl hat, wie wenn ich auf dem Land die Tomaten bei dem Bauern selbst kaufe. (Gelächter im Publikum) Sie lachen, aber das ist die Wahrheit. Ich glaube, das ist die einzige Möglichkeit: das allumfassende Handwerk. Buch, Regie, Schnitt – das mache alles ich. Ich bin auch bei der Werbung, den Plakaten und der Herstellung der DVDs dabei. Deswegen bin ich glücklich, denn ich mache einen Beruf so gut ich kann mit meinen Händen und das hindert mich nicht, ab und zu zu denken.

Publikumsfrage
Wie kann man sich die Arbeit vorstellen, wenn zwei Kreative wie Sie und Ihr Mann zusammenleben? Wie haben Sie sich inspiriert in der Arbeit und wie sehr fehlt Ihnen Ihr Mann in der Kreativität oder ist das völlig unabhängig voneinander?

AV
In LES PLAGES D’AGNÈS sieht man unser Haus, das einen kleinen Hof hat. Auf der einen Seite arbeitete Jacques, auf der anderen Seite fünf Meter weiter, war ich. Geographisch symbolisch, aber so war es. Wir haben nie zusammen gearbeitet. Wir hatten eine große Diskretion gegenüber der Arbeit des anderen. Ich mag die Filme von Jacques Demy sehr. Natürlich hat er sie mir zu lesen gegeben und mir den Rohschnitt gezeigt. Aber niemals hätte ich mir erlaubt zu sagen: „Du musst das so machen oder so.“ Umgekehrt kam es aber schon vor. Jacques Demy mochte SANS TOIT NI LOI sehr. Und er sagte immer: „Solche Filme kann ich nicht machen.“ Und ich sagte ihm immer: „Ich kann die LES DEMOISELLES DE ROCHEFORT nicht machen.“ Wir hatten im Kino ein sehr unterschiedliches Universum und einen sehr unterschiedlichen Arbeitsstil. So waren wir nicht im Wettstreit miteinander. Aber wir hatten das Glück, eine ähnliche Art von Erfolg zu haben. Er gewann die Goldene Palme in Cannes, ich den Goldenen Löwen in Venedig. Er bekam den Prix Louis-Delluc und ich auch. In Acapulco haben wir dieselbe Skulptur als Preis bekommen. So haben wir in 30 Jahren viel geteilt: ins Kino zu gehen, sich an der Hand zu halten, viel über das Kino zu reden, zu Hause zu leben, zusammen zu essen, zu schlafen, die Kinder aufziehen, die Katzen und sich auf Festivals zu begleiten. Ich glaube, dass man eine komplette künstlerische Unabhängigkeit bewahren und trotzdem ein wirkliches Paar sein kann. So ist es uns gegangen. Natürlich inklusive der ganzen Schwierigkeiten, der Momente der Trennung und dann der Schwierigkeit, dass er krank wurde und viel zu jung gestorben ist. 59 Jahre ist er geworden. Für Studenten ist das vielleicht alt, aber mit 59 kann man als Künstler noch viel machen. Ich war gerade in Portugal und habe Manoel de Oliveira getroffen, er ist jetzt 101 und dreht immer noch. Ich fand ihn sehr in Form, das hat mir Angst gemacht.

Publikum
Ich möchte mich für Ihre Filme bedanken. In den 1970ern waren Sie für die Studenten, die in Rumänien unter der Diktatur lebten, sehr wichtig.

AV
Vielen Dank. Das gefällt mir natürlich, dass die Filme in Rumänien so wahrgenommen wurden. Dass Leute, die keinen riesigen Erfolg haben, als Autoren trotzdem wahrgenommen werden und dass ihr Werk wirkt. Nicht nur in Rumänien, auch für die Frauen, zum Beispiel. Für die Frauen, die sich oft nicht getraut haben, Filmemacherinnen zu werden. Es gab manche, die sich sagten: „Ich werde Filmemacherin, denn Agnès hat es auch so gemacht“. Denn ich habe zu einem Zeitpunkt angefangen zu drehen, als es fast keine Regisseurinnen gab. Mein erster Langfilm ist von 1954, LA POINTE-COURTE. Und damals gab es eine oder zwei Frauen beim Film in Frankreich. Ich habe den Film nicht gemacht, um eine Karriere zu beginnen. Ich wollte etwas ganz Schwieriges erzählen. LA POINTE-COURTE ist sehr radikal. Ich sage immer: „Ich habe keine Karriere, sondern Filme gemacht“.

CN
Wir haben uns bei SANS TOIT NI LOI gefragt, ob er für Dich ein feministischer Film ist?

AV
Was bedeutet „feministisch?“ Frauen nicht verachten, sich nicht über sie lustig zu machen? Eine Frau, die sich auflehnt, nennt man eine „Feministin“, aber ein Mann, der sich auflehnt, wie nennt man ihn? Ich habe einen feministischen Film gemacht L’UNE CHANTE, L’AUTRE PAS. Da ging es um Solidarität zwischen den Frauen. Der Wunsch war, die Frauen zum Sprechen zu bringen, sie aus der Repression zu befreien. Denn die Möglichkeit, die Mutterschaft frei zu wählen, die erst jetzt vielleicht etabliert ist, war ein großer Kampf in den 70er Jahren. Diesen Kampf habe ich mitgemacht – mit dem Kino, aber auch ohne. CLÉO DE 5 À 7, erzählt zum Beispiel von einer sehr schönen Blondine, die Angst hat, Krebs zu haben. Eigentlich ist sie eine kokette Person, die erst von der Angst vor dem Tod aufgeweckt wird. Nach der Hälfte des Filmes geht sie raus und fängt an die Leute anzuschauen, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden. Ich glaube, dass jede Frau, die auf die Strasse rausgeht und mit Leuten redet, eine Feministin ist. Es gibt genug Kulturen, in denen der Vater, der Bruder oder der Imam für die Frau entscheidet. Die Wahrheit für die Frauen ist nur, dass sie entscheiden müssen. Nicht welchen Hut sie anziehen oder welchen Ohrring. Ja, auch da muss man entscheiden. Aber es gibt noch wichtigere Entscheidungen. Auf andere zuzugehen, Bürgerin werden, nicht nur zu denken, anderen gehorchen zu müssen. Ich glaube, dass Frauen, die das so machen, sich automatisch anderen Frauen nähern. Häufig bildet sich ein Kollektiv. Es gibt viele gemischte politische Gruppen, aber im Inneren findet man immer eine Zelle, wo Frauen zusammen sind, die einen etwas genaueren Standpunkt haben. Ich weiß nur, dass ich niemals auf irgendetwas verzichtet habe. Ich habe nicht gesagt: „Ich mache jetzt eine Kinokarriere, ich opfere alles, um Erfolg zu haben“. Ich hatte das große Glück, ein ganz normales Leben zu haben. Ich bin nur eine Frau, die versucht etwas zu verstehen. Ich denke, man muss unbedingt behalten, wer man ist, wenn man arbeitet. Manchmal sagt man, ich mache ein persönliches Kino, weil darin meine Stimme vorkommt, weil ich den Kommentar spreche. Aber warum ich? Nicht ich mache den Film. Ich versuche zu kommunizieren – mit Leuten in dunklen Sälen. Das ist unser Traum: dass Leute den Film von Anfang bis Ende sehen, deshalb lieben wir Kinosäle.

Übersetzung: Saskia Walker, Bearbeitung: Zsuzsanna Kiràly
Bildrechte: Angelika Huber

Veröffentlichung in „Revolver — Zeitschrift für Film“

Interview mit Kuratorin Caroline Nokel zum LaDOC Agnès Varda Special, WDR 3 „Resonanzen“ vom 13.01. 2010 > Interview mit WDR3

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